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Lyrische Stimmen in Gedichten von Primarschüler*innen: Eine explorativ-rekonstruktive Studie zu Perspektiven von Primarschüler*innen auf (aktuelle) Gesellschafts-und Weltgeschehnisse
Projektleiter:
Finanzierung:
Land (Sachsen-Anhalt) ;
Die Arbeit untersucht die lyrische Produktivität von Kindern anhand eines ausgewählten Textkorpus aus dem Archiv für Kindertexte „Eva Maria Kohl“ der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Datengrundlage sind Einsendungen zum Schreibaufruf „unzensiert und unfrisiert“ des Friedrich-Bödecker-Kreises aus den Jahren 1993 bis 2019. Sie unterscheidet sich von bisherigen Untersuchungen insbesondere durch ihren Fokus einerseits auf den Modus der Stimmen im Schüler*innengedicht und andererseits auf die sich zeigenden Haltungen bezüglich der gesellschaftspolitischen Geschehnisse und des gesellschaftlichen Wandels in den politischen Gedichten der Schüler*innen. Die gewonnenen Erkenntnisse haben damit sowohl theoretische als auch praktische Relevanz und bieten eine Grundlage für zukünftige Forschung und pädagogische Ansätze im Bereich Lyrikdidaktik an Grund-/Primarschulen.
Die Ergebnisse dieser Arbeit stellen eine Synthese aus Erkenntnissen der Kindheitsforschung (Heinzel 2000, Ritter/Kohl 2011, Fatke 1993) und aktuellen lyrikologischen Ansätzen (Schönert et al. 2007) dar. Das sich dadurch ergebende Forschungsdesiderat soll die bestehende Forschungslücke schließen und damit ein umfassenderes Verständnis des lyrischen Sprechens in Gedichten von Primarschüler*innen ermöglichen. Am Beispiel politischer Gedichte verweisen die Modi der Stimme auf Stufen kindlicher Partizipation und ermöglichen so Rückschlüsse über das Maß an Partizipation der Schüler*innen und ihre aktive Rolle in der Gesellschaft. Die gewonnenen Erkenntnisse tragen dazu bei, gesellschaftliche Veränderungen im Kindbild sowie im literarischen Feld herauszuarbeiten.
Fragt man Studienanfänger*innen des Lehramtes für Grundschulen mit dem Kernfach Deutsch, welchen Umgang und welche konkreten Gedichte sie aus ihrer Grundschulzeit erinnern, dann zeigt sich ein erstaunlich homogenes Bild. Das Gros verbindet mit Lyrik vor allen Dingen das „Auswendiglernens, Aufsagen und Benoten“. Abweichungen sind eher die Ausnahme, finden sich aber in zwei Richtungen: „Ich erinnere gar nichts“ bzw. „Ich erinnere einen Unterricht, in dem wir angehalten waren, eigene Gedichte zu schreiben, welche in entsprechendem Rahmen gewürdigt wurden“.[1]
Diese Aussagen decken sich nur bedingt mit den zu dem Zeitpunkt virulenten Diskursen der Deutschdidaktik, die u.a. im handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht kulminierten und in Fachbüchern und Fachzeitschriften[2] insbesondere in den 1990er Jahren häufig dargestellt worden sind. Demgegenüber verweist Gabriele Runge (1997) in ihrer Arbeit „Lesesozialisation in der Schule“ auf eine eher geringe Präsenz von Lyrik in Klassen- und Schulbibliotheken (ebd., S. 51). Dies ließe Vermutungen zum Umgang mit Lyrik zu, die sich in den Aussagen der Studierenden widerspiegelt: Lyrik scheint in der Schule ein Randphänomen zu sein.
Somit ergibt sich die Frage nach dem Umgang mit Lyrik in der Schule, insbesondere in der Grundschule: bleibt es bei dem tradierten Umgang mit Gedichten im Sinne des kanonbildenden Memorierens wiederkehrender Gedichte oder zeigen sich darüber hinaus neue Entwicklungen? In den letzten Jahrzehnten ist die Deutschdidaktik (u.a. Spinner 1981, 2000, 2018; Kohl 1992, 2011; Andresen 1995, Schulz 2013, aber auch Handwerk 2011 und Röhner 2000) diesbezüglich zu neuen Erkenntnissen gelangt. Über den Wert des Gedichts hinaus, sei es als erziehendes, memorierendes oder sprachbildendes Gut, betonen die Autor*innen insbesondere die Selbstaussprache der Kinder. Dabei werden freie Kindertexte als schriftlich fixierte Dokumente verstanden (vgl. Fatke 1993; Hoffmann 2018; Röhner 2000), derer sich die Kindheitsforschung bereits umfänglich bedient, um u.a. Auskunft über Lebens- und Umweltbedingungen Heranwachsender zu erhalten (vgl. Heinzel 2000; vgl. Lange/Mierendorff 2009). Diese Kindertexte bieten neben Einblicken in Aspekte von Kindheit auch verschiedene Anknüpfungspunkte im Rahmen wissenschaftlicher Auseinandersetzung und können beispielsweise als Zeugnisse von Bildungsprozessen dienen (vgl. Kohl/Ritter 2011, S. 211). Somit trägt die Untersuchung zur Erforschung der Selbstaussprache der Schüler*innen bei und eröffnet Einblicke in deren Lebens- und Weltsicht.
Ausgangspunkt ist die Frage, wann die Deutschdidaktik ernsthaft begann, der kindlichen Stimme im Gedicht Raum zu geben und inwiefern kindliche Texte Gültigkeit besitzen, ernst genommen und den Texten erwachsener Autor*innen gleichgestellt oder als ebenbürtig betrachtet werden?
Ausgangspunkt meiner Forschungen sind Fragen wie:
  • Inwiefern eignet sich Lyrik, Kinder zur Selbstaussprache zu erziehen? (Ich verwende hier einen Erziehungsbegriff, der geklärt werden muss, denn was ist Erziehung überhaupt?)
  • Wie ernst werden kindliche Schreibprodukte genommen?
  • Inwiefern kann die Lyrik dazu beitragen, gesellschaftlich engagierte Individuen hervorzubringen bzw. ist das überhaupt erwünscht, wenn man betrachtet, dass die Lyrik in den letzten Jahrhunderten hauptsächlich belehrend und „formend“ zum Einsatz kam?
  • Inwiefern kann Lyrik zum Ausgangspunkt des gesellschaftlichen Lernens im Kontext des Deutschunterrichts genutzt werden?
  • Welche Formen nutzen Schüler*innen der Grundschule, um ihren Gedanken einen lyrischen Rahmen zu geben?
  • Welche Themen verhandeln Schüler*innen in ihren frei gewählten lyrischen Texten?
  • Inwiefern lassen sich Aussagen zu Mehrstimmigkeit/ Polyponie treffen bzw. wie lässt sich ein pädagogisches Feld konstituieren, in dem der kindlichen Stimmvielfalt Raum gegeben wird?

Diese Fragen werden in den diese Studie leitenden Forschungsfragen verdichtet:
  • Welche Parallelen können zwischen der Entwicklung der Lyrikdidaktik und der Entwicklung des lyrischen Textmaterials der Kinder beschrieben werden?
  • Welche Entwicklungen lyrischer Produktivität spiegeln sich in den Kindertexten des Schreibaufrufs „unszensiert und unfrisiert“ über den Zeitraum von 1993 – 2019 wieder?
  • Wie verhandeln Primarschüler*innen Themen in selbst verfassten Gedichten über einen Zeitraum von 1993 – 2019?
  • Welche Formen, Themen und Modi lassen sich in den Gedichten von Primarschüler*innen rekonstruieren?
  • Inwiefern deuten diese Stimmen auf gesellschaftspolitische Partizipation der Primarschüler*innen?

In dieser Arbeit werden deshalb zunächst konzeptionelle Entwicklungslinien der Lyrikdidaktik betrachtet, um im Anschluss die Entwicklung der lyrischen Produktivität von Kindern im Zeitraum von 1993 bis 2019 anhand des ausgewählten Textkorpus zu untersuchen und zu prüfen, inwiefern sich hier eventuelle Zusammenhänge zeigen. Es wird analysiert, wie sich das literarische Schaffen von Schüler*innen, insbesondere im Bereich der Lyrik, über die genannte Zeitspanne verändert. Dazu werden die Formen, Themen, Modi und die daraus resultierenden Haltungen in den selbst geschriebenen Gedichten der Schüler*innen exemplarisch anhand des Schreibaufrufs „unzensiert und unfrisiert“ des FBK Sachsen-Anhalt betrachtet. Die Ergebnisse sollen Erkenntnisse über die Artikulation gesellschaftlicher Veränderungen liefern und zeigen, wie Schüler*innen relevante Themen in ihrer Lyrik zum Ausdruck bringen. Dabei wird angenommen, dass diese Entwicklung auf gesellschaftliche Veränderungen zurückzuführen ist, die sich sowohl in der Pädagogik (Heinzel, 2000) als auch im literarischen Feld (vgl. Bourdieu, zit. n. Jurt 1997, XY) manifestieren. Ziel ist es, herauszufinden, wie Primarschüler*innen über einen längeren Zeitraum hinweg für sie relevante Themen in ihren selbst verfassten Gedichten artikulieren und verhandeln. Die Veränderungen im literarischen Schaffen von Kindern, insbesondere im Bereich der Lyrik, scheinen gesellschaftliche Entwicklungen zu spiegeln, die sowohl in der Pädagogik als auch im literarischen Feld erkennbar sind. Besonderes Augenmerk wird dabei exemplarisch auf politische Gedichte gelegt, die als Verarbeitung kindlicher Welterfahrung zu betrachten sind und dadurch Einblicke bieten, wie sich Kinder zu ihrer erlebten Umwelt ins Verhältnis setzen. Damit können sie als ein Indikator untersucht werden, wie Kinder an gesellschaftspolitischen Themen partizipieren.
Die empirische Forschung im Rahmen der Deutschdidaktik gewinnt in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung (vgl. Boelmann 2016). Das hier konzipierte Forschungsprojekt möchte in diesem Sinne einen Beitrag zur aktuellen grundschulspezifischen deutschdidaktischen Diskussion leisten. Unter Zuhilfenahme einer modifizierten Dokumentenanalyse nach Denz (1989) und Hoffmann (2018) werden Spuren lyrischer Artikulation in den Blick genommen und die Entwicklungen lyrischer Produktivität im institutionalisierten Kontext erforscht. So wird ermöglicht, die „Interaktionsmuster, institutionellen Handlungskontexte oder Wertorientierungen und Meinungen von Individuen oder Gruppen aufzudecken“ (Salheiser 2019, S. 1121). Die Gedichte, die von Schüler*innen in didaktisch inszenierten offenen Schreibsituationen in der Schule oder in der Freizeit verfasst wurden (Kohl/Schulz, 2004, S. 4), werden dabei als „natürliche Daten“ (Salheiser 2019, S. 1119) betrachtet und fallen in die Kategorie der „non-reaktiven Verfahren“ (Mayring, 2016, S. 47). Innerhalb dieser Dokumentenanlyse wird in der Analyse einer ausgewählten Kategorie auf computergestützte inhaltsanalytische Verfahren nach Mayring (2015) zurückgegriffen.
Der Textkorpus (n=2333) wird zunächst einer Formen- und Themenanalyse unterzogen, um anhand der ausgewählten Kategorie Politik (n=109) die Haltungen bzw. das Maß an Partizipation der Schüler*innen zu rekonstruieren. Um dies zu realisieren, wird das Konzept der Polyphonie von Michail Bachtin (1979) herangezogen, welches v.a. durch Schönert und Hühn (2007) in die Lyrik übertragen wurde. Dabei wird untersucht, wie die Autor*innen in den „Stimmen der Kinder“[3] für sie relevante Themen artikulieren, die Hinweise auf mögliche Veränderungen hinsichtlich kindlicher Partizipation und die erlebte Rolle innerhalb der Gesellschaft verdeutlichen. Um dies zu darzustellen, wurden die Modi der Stimmen induktiv aus dem Material erschlossen. Mittels einer narratologischen Lyrikanalyse nach Hühn und Schönert (vgl. ebd, 2017) münden die Ergebnisse abschließend in „Lesarten“ / Ausdeutungen zu repräsentativen Gedichten, um ausgehend vom „Kind als sozialen Akteur“ (Heinzel 2000) gedanklich zu modellieren, wie Gedichte im Deutschunterricht der Grundschule u.a. auch zur Demokratiebildung beitragen können, indem die Fähigkeiten der Perspektivübernahme, der Empathie für andere und anderes sowie die Wertschätzung füreinander angebahnt werden.

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[1] Diese Befragung wurde innerhalb von Seminaren in den Jahren 2019 is 2021 durchgeführt (n=90). Den Befragten, welche in den 2000er-Jahren die Grundschule besuchten, wurden die folgenden offenen Fragen gestellt: „Welche Gedichte aus ihrer Grundschulzeit erinnern Sie?“ und „Wie wurde der Lyrikunterricht in ihrer Grundschulzeit gestaltet?“
[2] In einer Analyse der Zeitschrift „Die Grundschule“ (Westermann) von 1969 – 2019 konnten insgesamt 38 Beiträge identifiziert werden, die sich mit Lyrik beschäftigten. Davon waren fünf Beiträge konzeptioneller Art, während die übrigen Beiträge Methodenbeispiele und Unterrichtsvorschläge enthielten. Ein deutlicher Höhepunkt der Veröffentlichungen fand in den 1990er Jahren, mit insgesamt 20 Beiträgen, die sich auf handlungs- und produktionsorientierte Verfahren konzentrierten, statt. In den 1970er Jahren wurden vier Beiträge zur Lyrik verfasst, in den 1980er Jahren zwei. In den 2000er Jahren nahm die Anzahl der Beiträge zu diesem Thema wieder ab; es wurden 9 Beiträge veröffentlicht. Ab den 2010er Jahren verringerte sich die Anzahl weiter auf lediglich 3 Beiträge. Es zeigt sich also schon auf dieser quantitativen Ebene eine deutliche Konjunktur der Lyrikdidaktik in den 1990er Jahren.

[3] Dieser Begriff ist von Eva Maria Kohl und Michael Ritter von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg übernommen worden, die ihn in Bezug auf das Archiv für Kindertexte und die gleichnamige Tagung im Jahr 2009 prägten. Auf dieser Tagung wurde das Potenzial von Kindertexten als Forschungsmaterial diskutiert (vgl. Ritter 2010 und Kohl/Ritter 2011).
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