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Internationale Graduiertenschule: "Verbindlichkeit von Normen der Vergesellschaftung"
Finanzierung:
Land (Sachsen-Anhalt) ;
Der internationalen Graduiertenschule liegt eine inter- und transdisziplinäre Fragestellung zugrunde: Wie können in Gesellschaften politische, ethische, rechtliche, religiöse, kulturelle oder ästhetische Normen und Werte von Personen als verbindlich erkannt oder verbindlich gemacht werden? Dabei stellen sich folgende Anschlussfragen: Welche Autoritätsquellen werden jeweils bemüht, um die Anerkennung dieser Normen und Werte zu begründen oder ihre Befolgung zu motivieren? Welche Regeln, Prinzipien, Gesetze werden explizit formuliert oder stillschweigend vorausgesetzt? In welchem Spannungsverhältnis stehen transzendente Quellen der Legitimität und Autorität zu innerweltlichen Begründungszusammenhängen? Welche gesellschaftlichen Ideale drücken diese Normen und Werte aus? Auf welche kulturellen, sozialen, philosophischen und religiösen Konflikte, Krisen oder Umbrüche reagieren sie? Welche gesellschaftlichen Prozesse und Umbrüche werden ihrerseits durch Verbindlichkeitsdiskurse angestoßen?
Diese Fragen sind in der Gegenwart von unmittelbarer Relevanz und eröffnen Perspektiven auf die Möglichkeitsbedingungen und auf das Selbstverständnis moderner pluralistischer Gesellschaften. Die Verständigung und der Konflikt über die Verbindlichkeit von Normen und Werten ist aber auch ein Grundproblem jeglicher Vergesellschaftung, das Thema hat also eine historische und eine kulturanthropologische Vergleichsdimension. Die internationale Graduiertenschule setzt sich daher zum Ziel, die Frage nach der Verständigung über verbindliche Normen kultur- und epochenübergreifend zu untersuchen.
Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu Verbindlichkeitsdiskursen ist ein spezifischer Moment in der Debatte um die Grundlegung einer allgemeinen normativen Theorie menschlichen Handelns, so wie er prominent in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in Philosophie, Theologie und Naturrecht - gerade auch ausgehend von der Universität Halle - zum Ausdruck kommt: Die Frage nach dem Grund unserer allgemeinen Verbindlichkeiten, sei es in Gestalt von Pflichten gegenüber uns selbst, gegenüber anderen oder gegenüber Gott. Welches sind die Motive und Gründe, die unser Denken und Handeln leiten sollen? Was bindet unseren freien Willen? Neben dem natürlichen Gesetz, das durch das Studium der Natur des Menschen und der Dinge erkannt wird, tritt der Wille Gottes (göttliches Gesetz) und der Wille innerweltlicher Autoritäten, insbesondere des Souveräns (positive Gesetze). Das natürliche Gesetz kann dabei zum einen als Ausdruck des (kontingenten) Willen Gottes, es kann aber auch als Ausdruck einer in der Vernunft selbst begründeten Notwendigkeit verstanden werden, dem alles Sein - auch der Wille Gottes - unterworfen ist. Die Relation von göttlichem, weltlichem und natürlichem Gesetz, von Gott, dem Souverän und der Vernunft war im 18. Jahrhundert Gegenstand einer fortlaufenden Debatte - aber auch jenseits der Aufklärungszeit wurde und wird das Verhältnis dieser drei normativen Ebenen bzw. Autoritätsquellen
fortwährend neu ausgehandelt und bestimmt, ist die Normenkonkurrenz ein prägendes Element sowohl vormoderner als auch moderner Gesellschaften.
Neben die Frage nach den konfligierenden Autoritätsquellen und Normen tritt die Frage nach den kulturellen Voraussetzungen, derer es bedarf, um in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen Verbindlichkeit über bestimmte Normen und Werte erzielen zu können. Dies ist zum einen in einer historischen Dimension zu erforschen; welche kulturellen und religiösen Voraussetzungen wurden im Lauf der Geschichte jeweils als verbindlich erachtet, um Verbindlichkeit herstellen und garantieren zu können? Welche Konflikte gingen mit den hierbei unternommenen Initiativen zur Herstellung dieser Voraussetzungen jeweils einher? In welchen Kommunikationsräumen, mit welchen Medien findet die Verständigung darüber jeweils statt? Zum anderen stellt sich diese Frage auch für unsere heutige Zeit: Bedarf auch die pluralistische, funktional ausdifferenzierte Gesellschaft grundlegender kultureller Prägungen, um die Verbindlichkeit grundlegender Normen und Werte sicherstellen zu können? Oder bestehen Möglichkeiten, auch ohne gemeinsame kulturelle Fundierungen gleichwohl verbindliche Normen durchsetzen zu können? In welchem Verhältnis steht der Verbindlichkeitsdiskurs zu der Rede von Menschenrechten oder von Tugenden?
Themenfeld 1: Freiheit, Gesetz und Verbindlichkeit (Klemme, Dierken, Cyranka)
Das Verhältnis von Freiheit, Gesetz und Verbindlichkeit soll im Ausgang von Christian Wolffs Konzeption einer allgemeinen Theorie menschlichen Handelns untersucht werden. Wolff ist der erste Philosoph, der Anfang des 18. Jahrhunderts in Halle eine nach systematischen Gesichtspunkten konzipierte Grundlagenwissenschaft für Recht, Ethik, Politik und Ökonomie entwickelt. Vor dem Hintergrund dieser in vielen Ländern Europas rezipierten Wissenschaft können erstens die teilweise dramatischen Neubestimmungen der Verbindlichkeit im Zeitalter der Aufklärung besser verstanden werden. Für sie stehen einerseits Autoren wie Rousseau, Kant und Hegel, andererseits Begriffe wie Autonomie, Menschenrecht und Sittlichkeit. Zweitens können die Gründe und Motive identifiziert werden, die dazu geführt haben, dass seit dem 19. Jahrhundert Verbindlichkeit als Grundbegriff einer allgemeinen Handlungstheorie, als Leitbegriff sozialer Ordnung und der individuellen Freiheitsbestimmung in den Hintergrund getreten ist. Er wird nicht nur zunehmend mit dem Begriff der Pflicht identifiziert und damit in seiner Bedeutung eingeschränkt, er wird auch durch alternative Begriffe (Geltung, Sittlichkeit, Tugend) abgelöst. Völlig unklar ist in der bisherigen Forschung, welche Brüche und Veränderungen mit diesen alternativen Bezugsrahmen für das Selbst- und Fremdverständnis von Person und Gesellschaft verbunden sind. So stellt sich die Frage nach der Anschlussfähigkeit des Begriffs der Verbindlichkeit für gegenwärtige Debatten und Problemstellungen mit besonderer Dringlichkeit.
Themenfeld 2: Debatten über Voraussetzungen gelingender Vergemeinschaftung (Pecar, Kleinmann, Hettling, Cyranka, Bluhm)
In der Frühen Neuzeit (16.-18. Jh.) gab es eine Verständigung über die Voraussetzungen gelingender Vergemeinschaftung. Hierbei spielten insbesondere Fragen konfessioneller Homogenität und religiöser "Reinheit" eine zentrale Rolle. Der Grad der Verbindlichkeit religiöser Bekenntnisse gestaltete sich in den politischen Gemeinwesen sehr unterschiedlich, und die Heterogenitätserfahrungen wurden auf sehr vielfältige Art und Weise reflektiert und in der Praxis bewältigt: in Identitäts- und Fremdheitsdiskursen, in der politischen Normbildung, in Techniken der Identitätsbildung durch Abgrenzungsrituale ebenso wie in Techniken der Dissimulation und der
 
religiösen "Ambiguität" sowie in Versuchen, Verbindlichkeit über Normen der Gesellschaft jenseits religiöser Sinnzuschreibungen herzustellen.
Das 18. Jahrhundert rückt hier als eine Transformationsepoche in den Blick. Neben normative Anforderungen an den Untertanen traten Erfordernisse der Identifikation des Bürgers mit dem Gemeinwesen, ging es um die innere Bereitschaft, für das Gemeinwesen einzutreten und partikulare Interessen zurückzustellen. Dies unter Begriffe wie "Gemeingeist", "Gemeinsinn", "Bürgersinn", "Patriotismus", theoretisch begründet, normativ aufgewertet und als ideelle Metakategorie für den Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft verstanden.
Untersuchenswert sind sowohl die theoretischen Begründungen der Quellen und Wirkungen von "Gemeinsinn", als auch vor allem konkrete Handlungsfelder, von Selbstverwaltung und Ehrenamt über differente Formen von Wohltätigkeit bis hin zur militärischen Wehrhaftigkeit, welche in der liberalen Theorie des 19. Jh. in der Bereitschaft zum "Tod fürs Vaterland" als höchste Form der Bürgertugend bewertet und als Beweis ultimativer Verbindlichkeit angesehen wurde. Für die Gegenwart stellt sich die Frage nach Versprechen und Verzeihen als Modi der Generierung und Kontinuierung von Verbindlichkeit unter den Bedingungen von Pluralität und Ungewissheit politischer Handlungsfolgen - Versprechen als Modus der Handlungsmobilisierung und Verzeihen als Modus des Umgangs mit Fehlschlägen. Beides soll theoretisch und exemplarisch erkundet werden.
Themenfeld 3: Regel und Regelbruch in Kunst, Musik und Literatur im Zeitalter der Aufklärung (1650- 1850) (Décultot, Fulda, Hirschmann, Thoma)
Das Zeitalter der Aufklärung lebt zunächst noch in den kulturellen Verbindlichkeiten und Regeln der Rhetorik, Poetik und Musik- und Kunsttheorie, in den Produktions- und Kommunikationsformen der älteren Gelehrsamkeit sowie im Einflussfeld der französischen Hofkultur. Diese Verbindlichkeiten erfahren im 18. Jh. eine grundlegende Transformation im Namen von Sensualismus und Empfindsamkeit, Originalität und Geniekult, Natürlichkeit und Wissenschaftlichkeit. Zugleich verändern Öffentlichkeit und Markt nachhaltig die Struktur der res publica litteraria, das System der Künste und die Regeln des Verhaltens. Untersucht wird diese Restrukturierung in der Normreflexion, den gelehrten, kulturellen und ästhetischen Praxen sowie in den bis heute anhaltenden Debatten über Klassik zwischen Historizität und Normativität.
Themenfeld 4: Implementierung von Normen (Schüttemeyer, Wagner)
Sollen Erkenntnisse zu "Verbindlichkeit" im Rahmen eines Graduiertenkollegs gewonnen werden, darf thematisch nicht nach der Entscheidungsfindung aufgehört werden. Vielmehr muss auch die Frage nach der Umsetzung verbindlicher Normen gestellt werden, weil sich erst hier letztlich die Verbindlichkeit in ihrer handlungspraktischen Dimension erweist. Verbindliche Entscheidungen werden in verschiedenen Kulturen auf verschiedene Weise durchgesetzt - und doch gibt es immer wieder kulturübergreifende Steuerungstrends. Zu diesen gehören Techniken zur Implementierung von Normen, die den betroffenen Individuen die Unterwerfung unter diese als Ausfluss ihrer freien Entscheidung erscheinen lassen.
Zwei mögliche Themen wären zum einen die Besteuerungspolitik in Preußen im 19. Jahrhundert, zum anderen die Etablierung von sogenannten nudge-policies in der Gegenwart:
Die Entwicklung der direkten Besteuerung im Preußen des 19. Jahrhunderts bildet hierfür ein lohnendes Untersuchungsobjekt: Die Veranlagung der Steuersubjekte erfolgte zwar aufgrund
 
verbindlicher, in Gesetzen formulierter Entscheidungen, oblag aber Kommissionen lokaler Honoratioren und erfolgte auf Basis einer Selbsteinschätzung der Steuerpflichtigen. Die hiermit verbundene Ineffektivität und soziale Selektivität der Steuererhebung führten zu permanenten Konflikten und mehrfachen Steuerreformen, die schrittweise die Rolle der Bürokratie stärkten und die Steuererhebung von der Einwilligung des Steuerbürgers unabhängig machen sollten. Befanden sich Techniken der Implementierung verbindlicher Normen qua individueller Aneignung im Zuge des Staatsausbaus des 19. Jahrhunderts auf dem Rückzug, kehren sie in der Gegenwart scheinbar wieder zurück.
So experimentieren aktuell Regierungen weltweit mit psychologisch inspirierten verhaltens- wissenschaftlichen Techniken - sogenannten Nudges. Nudge-Policies geben das Versprechen, verbindliche Entscheidungen unverbindlich - indem sie dem Individuum die Entscheidungsfreiheit überlassen -, aber dennoch effektiv durchsetzen zu können. Seitdem Richard Thaler und Cass Sunstein 2008 mit ihrer Veröffentlichung "Nudge" Politiker weltweit auf neue Steuerungstechniken aufmerksam gemacht haben, werden so genannte Nudge-Policies auf verschiedenen Ebenen in verschiedenen Staaten implementiert. Theoretisch wie empirisch unerforscht ist bisher, wie die Durchsetzung von Entscheidungen von kulturellen Differenzen beeinflusst wird und wie sich sodann die Anpassung der Implementationstechniken vollzieht.

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